Randnotizen

Texte und Bilder 
aus meinem bunten Alltag
Von Holger Wieboldt

 

Älter werden mit Humor

Bin ich jetzt alt?
Einige Denksportaufgaben zuvor:
Wenn 60 das neue 40 ist und 70 das neue 50, dann bin ich … .
Das kalendarische oder das biologische Alter?
Ist nicht jeder so alt, wie er sich fühlt?
Die Frage nach dem Alter stellt sich unweigerlich, spätestes, wenn die anderen beiden großen Fragen zufriedenstellend beantwortet wurden, nämlich die nach dem Beruf und die nach der Marke des Autos, das man fährt.
Immerhin springt so manche kleine Anekdote im Zusammenhang mit der Frage nach dem Alter heraus. Hier sind einige davon zu lesen. Vermutlich wird noch die eine oder andere hinzukommen.

Der Kaffeenachmittag

Da sitze ich nun und lasse mich bedienen. Es gibt Kaffee und Kuchen; und wenn für das leibliche Wohl gesorgt ist, soll noch ein Vortrag folgen.
Das ist er also, mein erster Seniorennachmittag, den ich nicht als Veranstalter erlebe, sondern als Teilnehmer.
Mein Arbeitsleben lang habe ich dafür gesorgt, dass andere sich hinsetzen konnten und Kaffee, Kuchen, Schnittchen vorgesetzt bekamen und – ein kleines Programm.
Nun also ich, der Neu-Ruheständler.
An den anderen Tischen haben sich Kolleginnen und Kollegen von einst niedergelassen. Sie tragen die Kleidung, die sie vermutlich auch zu Dienst-Zeiten schon getragen haben. Einer hat seinen Cord-Anzug aus dem Schrank geholt.
Neben mir fällt auch der Veranstalterin auf, dass ich vielleicht doch noch ein wenig zu jung bin für diese Art der Freizeitgestaltung bzw. noch nicht alt genug, um in dieser Runde zu sitzen.
„Dann eröffnen Sie den Juniorentisch“, sagt sie. Ich sollte der einzige bleiben.
Immerhin war der Vortrag ganz interessant.
Als nächstes erwarte ich eine Einladung der Stadt. Dann gibt es bestimmt wieder das Übliche für derartige Veranstaltungen. Vielleicht noch etwas Obst. Diesmal dann im Rathaus. Der Bürgersaal ist recht groß. Vielleicht treffe ich dort dann auch auf ein paar Jüngere.

Die Frau am sozialen Rand

Ich schätze ihr Alter auf  – hm, schwer zu sagen – mindestens 73, 74, in jedem Fall aber über 70. Sie erzählt mir von ihren Schlafproblemen. „Ja“, sage ich, „ich wache nachts auch manchmal auf“. Sie mustert mich, überlegt einen Moment und urteilt: „Sie sind ja auch nicht mehr der Jüngste.“ Dann tastet sie sich langsam vorwärts. „Sind Sie schon 70?“ „Ja“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Und Sie? Auch schon 70?“ „Ja“, sagt sie. Das Ja hört sich an wie ein „Grah“, es hat etwas Grächzendes. Aber das liegt wohl daran, dass ihr einige Zähne fehlen. „Dann sind wir ja ein Jahrgang“, sage ich zu ihr. Sie nickt stumm – und bemerkt: „Sie sehen aus wie 60.“ Gern hätte ich ihr das Kompliment zurückgegeben. Stattdessen habe ich ihr noch einen Kaffee besorgt. „Das ist nett“, sagt sie, und tut, was sie stundenlang tut. Sitzt da, schweigt, beobachtet, dazwischen ein paar belegte Brote, ohne Butter. „Butter schmeckt mir nicht,“ Und ab und an ein wenig Small Talk, in dem sie immer wieder ihre aktuelle Stimmung benennt: „Alles scheiße.“

Die junge Ukrainerin

Neben mir sitzt eine junge Frau aus der Ukraine. Obwohl sie erst anderthalb Jahre im Land ist, spricht sie hervorragend deutsch. Sie stellt eine der Frage, mit der man in Deutschland immer richtig liegt und ein Gespräch zum Laufen bringen kann. Die erste Frage lautet: „Was machen Sie beruflich?“ Ich antworte ihr etwas ausweichend, lasse ihrer Phantasie freien Raum. Sie hakt nicht nach. Ich lasse sie aber wissen, dass ich im Ruhestand bin. Dann folgt die zweite Frage: „Wie alt sind Sie.“ Gern hätte ich geantwortet: „Etwas älter als Sie.“ Aber das wäre dann wohl doch etwas vermessen gewesen. Also sage ich wieder, dem Wahrheitsimpuls folgend: „Siebzig.“ Und sie? Nein, diesmal kein Kompliment, nicht einmal höfliches Schweigen. Sie sagt und ringt dabei doch ein wenig nach Worten: „Ja, doch kann man schon ruhen.“ Zu der dritten Frage, der Frage, was für ein Auto ich fahre, kam es nicht. Wen interessiert auch schon das Auto eines alten Mannes, der noch nicht einmal einen Beruf ausübt?

Beim Optiker

Der Mann, der die Seestärke meiner Augen messen will, fragt unvermittelt: „Wie alt sind Sie?“ Wahrheitsgemäß antworte ich: „Siebzig.“ Er schickt sich an, mit den Messungen fortzufahren, stockt dann aber doch und sieht mich fragend an, als habe er sich verhört und wolle sich nun Gewissheit verschaffen. Dann wiederholt er ungläubig: „Siebzig?“ Um dann hinzuzufügen: „Sie sehen doch noch so jung aus.“ Das geht runter. Dann fordert er mich auf, meine Augen weiter zu öffnen. Ich verstehe, warum er mich dazu auffordert. Schließlich hängen meine Augenlider sozusagen auf „Halbmast“, was der erschlafften Muskulatur meiner Augenlider geschuldet ist. „Schlupflider“, versuche ich ihm diese Tatsache zu erklären. Aber darauf verzichte ich. Der junge Mann mag aus Syrien kommen oder mit einem der Flüchtlingszüge, als die Kanzlerin den bedeutungsschweren Satz sagte: „Wir schaffen das.“ Er jedenfalls hatte es geschafft in einen Beruf zu kommen, einer Tätigkeit nachzugehen und Schmeicheleien anzubringen. Womit ich ihn aber nicht überfordern wollte, war das Wort „Schlupflider“. Dafür war er einfach zu nett.

In der Arztpraxis

Zum Arzt muss jeder mal. Vorsorge und so. Erst recht bei Beschwerden. Und mit fortschreitendem Alter nehmen die Arztbesuche bekanntlich zu; und das nicht nur, um Kontaktpflege in den Wartezimmern zu betreiben.
Kürzlich war ich also wieder einmal in so einer Arztpraxis, und zwar in einer solchen, die sich des Größten unserer Organe annimmt, der Haut.
Während ich also da sitze und darauf warte, dass mein Name aufgerufen wird, fällt mein Blick auf ein Plakat, das dort gut sichtbar, sauber eingerahmt und gerade ausgerichtet an einer Wand hängt und mein Interesse weckt.
„Erneuern Sie Ihre Jugend“, steht da im Fettdruck zu lesen und noch größer und auffälliger: „The Asclepion Effect“.
Wiederum winzig klein: „Dermale Läsionen & Skin Recurfacing“.
Also, dass hier die Möglichkeit bestehen soll, meine Jugend zu erneuern, habe ich sofort verstanden.
Aber wie genau, dazu musste ich dann doch Dr. Google fragen.
Kurzum: Derma = Haut
Läsionen = Bläschen, Blasen, Krusten, Papeln sowie Knötchen, Geschwüre und sonstiger Unrat.
Ach ja, und das Skin Recurfacing“ – da werden einzelne Hautschichten abgetragen und dabei geglättet.
Mein erster Gedanke dann doch: Meine Jugend erneuern? Nein, ich fühle mich, so wie ich bin, in Ordnung.
Allerdings: Lidstraffung wäre schon ganz gut.
Nicht, weil ich eitel wäre, sondern aus einem ganz praktischen Grund: Ich will einfach nicht, dass meine Augenlider bald soweit geschlossen sind, dass ich keine Plakate mehr lesen kann.
Vielleicht will ich ja doch einmal auf das eine oder andere Angebot eingehen.

Denkwürdiger T-Shirt-Kauf

Sommerschlussverkauf in einem Laden, in dem fair produziertes „organic clothing“ an die überwiegend junge Käuferschaft gebracht werden soll. Ausnahmen bestätigen die Regel, will heißen, auch ältere Kunden werden nicht abgewiesen.
Leitgedanke ist, Kleidung zu verkaufen an alle, „die gut gekleidet unsere Welt ein kleines Stück besser machen wollen“.
Also nichts wie hin und schauen, ob ich etwas finde. Eigentlich habe ich alles und brauche nicht noch mehr.
Im Laden entdecke ich ein chices Shirt, pink, sieht nett aus. Ich sehe damit nett aus.
Der Kauf scheitert aber an der Größe.
L haben sie noch. XL leider nicht. „Und in XXL würden Sie aussehen, als würden Sie einen Sack tragen“, sagt die Chefin, die sich inzwischen meiner angenommen hatte.
„Aber bei den Hanf-Shirt finden Sie bestimmt etwas. Superleicht und bequem, auch in Ihrer Größe und herabgesetzt.“
Das ist doch ein Wort. Also fange ich an zu stöbern und werde fündig: Ein schwarzes Shirt, schwarz geht immer, eines in grün, grün ist, warum auch immer, gerade angesagt, (sagt man das noch?) in diesem Sommer, „Brat girl-Grün“, wobei „Brat auf Deutsch soviel bedeutet wie „Göre“, also abwertend für ein eher unangepasstes Mädel.
Gilt vielleicht auch für „Brat boys“, also Lausbuben, Bengel. Ach herrje, wie mag man das heute nur nennen?
Jedenfalls nehme ich das Shirt.
Und dann noch eines in Lila! Lila. Mut zur Farbe. Geht vielleicht sogar als klerikales Lila durch. Passt doch. Ist aber auch wirklich hübsch.
Die Chefin / Verkäuferin ist zufrieden mit mir und meiner Auswahl, mit der Menge ebenso wie mit dem Material.
Und dann noch dies:
„Die können Sie tragen, bis Sie sterben“. Hanf mit Leinen, edle Waren und haltbar. Bis zum … . „Hmm“, ergänzt sie, wohl etwas erschrocken über ihren forschen Kommentar bezüglich des Ablebens ihres Kunden, „also so in dreißig Jahren. Ich fürchte, da hat sie etwas zu hoch gegriffen, aber, nun ja … .
Ich hoffe, dass wir uns vorher noch einige Male sehen, denn, wie gesagt, der Laden ist wirklich nett und die Ware gut und so ganz jugendlich geschnittene Modelle muss ich ja auch nicht tragen. Ganz abgesehen davon, dass sie mir schlicht nicht passen.

Im Supermarkt

Im Supermarkt finde ich mal wieder nicht, was ich will.
Sagt die Verkäuferin zu ihrer Kollegin:
„Der junge Mann sucht … .“
Die läuft sofort los, um das Gesuchte zu finden.
Und ich hinterher, gemessenen Schrittes, aber die Augen nicht von ihr ablassend.
Bis zum Regal mit meinem Wunsch-Produkt.
Prima Laden. Gute Auswahl, nette Umgangsform und ein aufbauender Umgang auch mit der älteren Kundschaft.

Am Bahnschalter

Mein Ansinnen war schlicht: Einmal Frankfurt und am selben Tag zurück, ICE, Bahncard 1, 25%, Ruheabteil, Fenster, Sitzplatzreservierung.
„Sind Sie schon über 75?“
Hat der Mann Tomaten auf den Augen, war sein Arbeitstag schon so lang und zermürbend, wollte er mich ärgern?
Unsinn: vermutlich wollte er für mich nur einen noch günstigeren Tarif herausfinden. Da geht man schon einmal bis an die Grenzen, auch, was die Altersfrage angeht.
Aber wahrheitsgemäß und ziemlich schnell habe ich auf seine Frage mit einem klaren NEIN geantwortet.
Sollte ich einmal mit 75 wieder vor ihm stehen, werde ich mich lächelnd und in Erinnerungen schwelgend an diese kleine Szene erinnern und antworten: „Heute liegen Sie aber goldrichtig. Welches gute Angebot für Kassel-Frankfurt und zurück können Sie mir machen?“

Hausordnung

Hausordnung, die Letzte in der alten Mietergemeinschaft. Treppe kehren, feucht wischen, dann noch einmal die Stufen trocken putzen; schließlich, weil Januar ist, zusätzlich das Fenster. 1. Stock, kein Problem, wegen Höhenangst und so.
Wer einmal die Treppe betreten hat, begegnet garantiert irgendwem. Das Haus ist groß.
„Im Alter fällt einem das Fensterputzen auch nicht mehr so leicht“, sagt die Frau, die an mir vorbei aus dem Haus will. Wir haben nie viel miteinander gesprochen. Nur heute, nach all den Jahren.
Und dann fügt sie noch hinzu: „Aber das wissen Sie ja.“
Ja, das weiß ich, auch ohne darauf hingewiesen zu werden. Im Alter, das „nichts für Feiglinge“ sei, fällt einem manches schwerer.
Aber heute nehme ich diese schwerwiegende Erkenntnis leicht.
Alles geschafft. Jedenfalls hier und heute.

Jünger werden mit der Bahn

Bekanntlich kommt man anders von einer Reise zurück als man sie angetreten hat.
Das hat mit den Eindrücken zu tun, die man unterwegs sammeln kann, mit Erlebnisse, Erfahrungen und dergleichen.
In der Regel ist man dann ein wenig oder gar ordentlich gealtert, je nachdem, wie lange die Reise und der Aufenthalt an jenem anderen Ort gedauert hat.
Dass man jünger zurückkehrt, scheint ausgeschlossen. Es sei denn, man war zur einer Kur oder hat in einer kosmetischen Klinik „etwas machen lassen“. Dann ist man aber nicht wirklich jünger, sondern wirkt – für einen gewissen Zeitraum und beim Anblick bestimmter Körperpartien – nur so.
Bei meiner letzten Reise war das offensichtlich anders.
Bahnfahrt Kassel – Wolfsburg. Hin, 2. Klasse, eine Person ab 65 Jahren. Soweit gut eingeschätzt, liebe Mitarbeiterin im Servicecenter der DB.
Und zurück, von derselben Person ausgestellt, Bahnfahrt Wolfsburg – Kassel eine Person 27 bis 64 Jahre.
Wie diese neue Einordnung zu erklären ist? Muss ich mal nachfragen.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich die Rückfahrt im 1. Klasse-Abteil antreten würde.
Ganz klar, dass das was mit einem macht. Hat sich wohl auch die Bahnmitarbeiterin gedacht bei der Ausstellung dieses Fahrscheines. Man kommt eben frischer zuhause an, beschwingter oder … (wie) jünger halt.