Neulich am Bahnhof – Ich bin Pia
Sie steht auf dem Bahnhofsvorplatz, eine junge Frau um die 30. Zu ihren Füßen ein dickes Bündel. Bei genauerem Hinschauen erkenne ich ein kleines Zelt, das sich von selbst öffnet, wenn man die Verschlüsse löst, einen großen Reisekoffer und eine Katzenbox. Sie steht da in der Kälte und – singt. Was sie singt, in welcher Sprache sie singt, kann ich nicht hören. Uns trennt immer noch eine Scheibe. Dann packt sie ihre Siebensachen und – nein, sie geht nicht fort, sie wechselt nur ihren Standort, ein paar Schritte zur Seite.
Ich gehe auf sie zu und spreche Sie an, immer noch unsicher, in welcher Sprache sie mir wohl antworten mag: „Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?“ „Nein, danke.“ „Oder einen Tee?“
Sie mustert mich. „Wer sind Sie denn?“ Ich stelle mich ihr kurz vor. Dann fasst sie offenbar Vertrauen und beginnt zu erzählen. Je mehr die Minuten verstreichen, desto schneller spricht sie und immer mehr Themen sprudeln aus ihr heraus. Es geht durcheinander. Aufgestautes löst sich in ihr. Sie spricht von schlimmen Erlebnissen und Erfahrungen, vom Draußen leben und von Plänen. Der nächstliegende: sie will ins Warme, nach Spanien.
Immer wieder schaut sie auf das Display ihres Smartphones, das dutzendfach gesplittert ist, aber noch funktioniert. Sie schaut offenbar nach einer Bahnverbindung.
Eigentlich muss ich los. Also schaue ich, ob ich ihr doch ein wenig Geld zustecken kann. „Sie müssen mir nichts geben.“ Mache ich aber.
Als ich später noch einmal zurück komme, ist sie weg. Nein, sie steht jetzt nur woanders. Wieder singt sie.
Und jetzt kommen wir richtig ins Gespräch. Aber es bleibt im Dunklen, welche Geschichte sie mit sich trägt. Zu wirr kommt mir ihre Rede vor, die Sätze, die jetzt nur so aus ihr heraussprudeln, die Wangen rot vor Erregung.
Ihre Sachen hätte sie am liebsten bei sich. Es würde so viel gestohlen. Ob bei uns auch schon mal etwas gestohlen worden sei, will sie wissen. Und ich antworte: „Ja, eine Bibel.“
Und sie: „Ich hatte auch schon mal eine Bibel. Die habe ich verbrannt.“
Dann ein erneuter Blick auf ihr Smartphone. „Ich muss los.“ Die Regio-Tram kommt gleich. Mit dem Regionalzug nach Frankfurt zum Flughafen? Nun ja … .
Dann verabschieden wir uns. „Wenn Sie mal wieder in Kassel sind … .“ „Nein, sicher nicht“, sagt sie. Und dann: „Ich habe mich gefreut, Sie kennengelernt zu haben.“ „Ich mich auch“, antworte ich und muss an einen Satz aus dem Markus-Evangelium denken, wo sich Jesus mit einem reichen jungen Mann über das Reich Gottes unterhält und der sich schwer tut, auf seinen materiellen Besitz zu verzichten; wie es dann in der Geschichte heißt: „ … Da sah ihn Jesus an, (und) gewann ihn lieb.“ (10, 21)
Genau so erging es mir mit ihr in diesen Momenten. Von Minute zu Minute mehr – ich habe sie lieb gewonnen.
„Wie heißen Sie denn?“, will sie schon im Weggehen von mir wissen.
Ich nenne ihr meinen Vornamen.
„Ich bin Pia.“
Alles Gute, Pia. Von Herzen.
PS
Die Namen in den „Begegnungen“ sind nicht die wahren Namen der hier erwähnten Personen.